OHNE KUNST UND KULTUR WIRD ES STILL (Ein offener Brief von Marco Hanneken)
„Ohne Kunst Und Kultur Wird Es Still“
Ein offener Brief zur aktuellen Problematik von Kulturveranstaltungen
von Marco Hanneken (Veranstaltungskaufmann; Booker aus dem Zollhaus in Leer)
Die (Vor-)Freude war und ist nach wie vor groß – die pandemischen Einschränkungen der letzten beiden Jahre sind vorbei, Clubs und Kulturzentren haben wieder geöffnet, Festivals finden wieder statt – es gibt derzeit keine Zugangs- und/oder Kapazitätsbeschränkungen und keine Maskenpflicht – also alles wie vor der Pandemie (die natürlich noch nicht vorbei ist) – und doch ist nicht alles so rosig, wie es scheint – die derzeitige Situation ist für uns (und viele in der Kultur- und Veranstaltungsbranche) sehr schwierig:
Während des Lockdowns haben sich viele Menschen mit der Kulturbranche solidarisiert und nach Öffnung geschrien – Profilbilder mit dem Spruch „Ohne Kunst und Kultur wird es still“ waren zuhauf zu sehen – und nun, wo wir wieder ganz normal veranstalten dürfen wird es tatsächlich still, weil nur noch wenige Menschen Kulturveranstaltungen besuchen – und leider auch nur wenige über diese Situation sprechen oder ihnen diese überhaupt bewusst ist.
Die Ticket-Vorverkäufe unserer Veranstaltungen laufen schlecht wie nie – und auch an der Abendkasse geht momentan noch so gut wie nichts – die Vorverkäufe geben uns als Veranstalter*innen natürlich eine gewisse Sicherheit und sind vor allem auch für die Planung und Durchführung unserer Veranstaltungen extrem wichtig.
Natürlich gibt es Ausnahmen, gerade im Bereich der großen Künstler*innen und Bands gibt es nach wie vor viele ausverkaufte Shows und Highlight-Veranstaltungen, aber im mittleren und kleinen Segment, in dem wir veranstalten, ist es momentan schwierig die vorhandenen Karten auch nur annähernd loszuwerden.
Es macht auch keinen Unterschied, ob Konzert oder Lesung, ob Hip Hop, Jazz oder Metal, ob Kultur für 20, 30, 40 oder 60,70jährige… denn wir haben unser Programm absichtlich nicht auf eine Richtung oder Altersgruppe ausgelegt, sondern möchten allen Menschen einen Raum für Kultur bieten; aber ob Max Mutzke oder Caliban, Audio88 & Yassin oder das erste Jazz, Swing & Bluesfest (mit hochkarätigen Künstlern und Bands), eine Lesung von Tobias Ginsburg oder eine Comedy Show von Ingo Oschmann – vieles hakt gerade!
Es kommen Fragen und Selbstzweifel auf:
- Sind es die „falschen“ Künstler*innen und Bands, die wir gebucht haben?
- Sind es zu viele Veranstaltungen für eine kleine Stadt wie Leer?
- Sind die Tickets zu teuer?
- Haben unsere Gäste noch Angst Veranstaltungen zu besuchen?
- Sind unsere Werbemaßnahmen die falschen?
- Erreichen wir die richtigen Zielgruppen?
- Oder sind einfach zu viele potentielle Gäste zu bequem geworden?
Es fühlt sich fast so an, als ob in Leer und Ostfriesland nur noch sehr wenige Menschen überhaupt Lust auf Kulturveranstaltungen haben. Klar, es war auch vor der Pandemie schwierig in unserem Einzugsbereich im ländlichen Raum alle Zielgruppen zu erreichen und zufrieden zu stellen („Was der Bauer nicht kennt frisst er nicht“), und natürlich gab es auch vor der Pandemie immer wieder Veranstaltungen mit mäßigen Ticketverkäufen und die wird es auch immer geben, das ist uns bewusst. Und doch ist es in diesem Jahr irgendwie anders.
Wir sind im Moment mit unserem Kulturprogramm so divers/vielfältig und qualitativ hochwertig aufgestellt wie es noch nie vorher der Fall war – und doch scheint es der falsche Weg zu sein – oder!?
Künstler*innen, von denen wir überzeugt sind, dass sie das Zollhaus vor der Pandemie ausverkauft hätten verkaufen gerade nicht einmal 50% der zur Verfügung stehenden Tickets.
Sogenannte Leuchtturm-Veranstaltungen, wie das Hurricane, Rock Am Ring, Rammstein, Die Ärzte oder Coldplay funktionieren nach wie vor und täuschen in der öffentlichen Wahrnehmung über all das hinweg – und suggerieren so leider derzeit ein „schiefes Bild“ – viele Menschen haben dadurch den Eindruck, dass alles wieder „normal“ ist und die Konzerte überall gut laufen – es werden aber derzeit haufenweise Konzerte und Festivals abgesagt oder sie finden mit einem Bruchteil der Zuschauer statt. Davon gibt es natürlich keine Bilder in den sozialen Medien.
Es ist für uns nicht absehbar, ob und wann diese Entwicklung wieder rückläufig sein wird.
Andererseits bekommen wir derzeit viel Zuspruch und großes Lob für unsere Arbeit und Entwicklung, viele Menschen entdecken das Zollhaus als Veranstaltungsort oder entdecken es „neu“, werden Mitglied im Zollhausverein und möchten mit uns zusammenarbeiten.
Unser Netzwerk mit anderen Kulturschaffenden und Kooperationspartnern wird immer größer, auch die Kommunikation mit den regionalen Medien hat sich entwickelt, Agenturen und Künstler*innen haben uns wieder verstärkt im Blick.
Unsere Türen stehen immer und für jede und jeden offen – KULTUR FÜR ALLE!
Wir haben uns und unsere Arbeit in der Krise neu strukturiert und auch die Programmarbeit wurde neu aufgestellt; unter anderem bin ich seit April 2021 Teil des Zollhaus Teams und seit diesem Jahr fest als Booker eingestellt worden.
Diese hochwertige Programmarbeit ist im vergangenen und in diesem Jahr nur dank diverser Fördermittel (z.B. „Neustart Kultur“) möglich.
So konnten wir seit Juni 2021 Konzerte mit Künstler*innen und Bands veranstalten, von denen wir nicht gedacht hätten diese mal so geballt nach Leer holen zu können; u.a. Thees Uhlmann, Antilopen Gang (mit #1 Album-Künstler Danger Dan), Leoniden, Kettcar, 102 Boyz, Bummelkasten, Sick Of It All, Heinz Strunk, Haiyti, Razz, Enno Bunger, Joco, Fatoni, Rikas, Tim Vantol, Stoppok, Frank Muschalle, Werner Momsen, Abi Wallenstein, Audio88 & Yassin, Misery Index, … und auch vielen lokalen Bands und Künstler*innen konnten wir endlich wieder eine Bühne bieten.
Außerdem folgen dieses Jahr noch Konzerte und Veranstaltungen mit Das Lumpenpack, Jeremias, Caliban, Die Sterne, Unter Meinem Bett, Rapalje, Monsters Of Liedermaching, Dartagnan, Timon Krause, Jochen Distelmeyer, Max Mutzke, Andy Strauß, Ingo Oschmann, Tobias Ginsburg, Heldmaschine, und und und … für so eine kleine Stadt/Region eigentlich ein Traum.
Es reicht aber eben nicht, und das ist die wohl wichtigste Erkenntnis, dass wir wieder regulär öffnen und veranstalten dürfen – es müssen eben auch Gäste kommen – nicht ohne Kunst und Kultur, sondern ohne die Menschen, die ebensolche Veranstaltungen besuchen, wird es still!
Wir können nicht davon ausgehen, dass auch in den nächsten Jahren Fördermittel in dem Ausmaß für unsere Programmarbeit zur Verfügung stehen werden – dann müssen wir die Kosten für unsere Veranstaltungen durch Ticketverkäufe wieder selber erwirtschaften – und ob wir dann dieses unkalkulierbare Risiko eingehen können weiterhin solche (für unsere Verhältnisse) teuren Veranstaltungen durchzuführen ist fraglich.
Wir machen uns wirklich große Sorgen um den Erhalt der öffentlichen Kulturveranstaltungen und natürlich auch um unsere Jobs, die wir so lieben und die wir endlich wieder in vollem Umfang ausüben dürfen und für die wir „brennen“.
Es ist eine merkwürdige Zeit – und natürlich können wir auch die Argumente verstehen, warum man derzeit nicht auf Veranstaltungen geht – alles wird teurer, Inflation, Krieg, Corona, Sommer, Urlaub, ihr habt noch Karten am Kühlschrank von verschobenen Konzerten der letzten Jahre,… das alles sind gute und nachvollziehbare Gründe, die uns auch umtreiben.
Hinzu kommen weitere Schwierigkeiten – angefangen beim Personal- und Fachkräftemangel (Techniker sind z.B. fast nicht mehr zu bekommen; und wenn dann zu stark gestiegenen Preisen), steigende Energiekosten und erhöhte Produktionskosten (Gagen, Hotels, Catering, Technik, etc.) und dann natürlich auch die große Sorge um den Herbst/Winter 22/23 – es ist und bleibt schwierig.
Wenn ihr Kulturveranstaltungen wie Konzerten, Lesungen, Comedy, Ausstellungen, Shows,… eine Zukunft geben möchtet – BESUCHT KULTURELLE VERANSTALTUNGEN IN EURER REGION!
Um die Kulturlandschaft zu unterstützen werdet Mitglied in Kulturvereinen, nehmt Programmangebote wahr und unterstützt aktiv mit ehrenamtlichem Engagement.
Kultur ist wichtig für die Region, für das soziale Miteinander, die Lebensqualität, den seelischen Ausgleich, für eine Demokratie und somit ein fundamentaler und wichtiger Pfeiler für jede Gesellschaft.
Auch, wenn ihr nicht alles kennt – lernt neue Sachen kennen, gebt auch kleineren Künstler*innen und Bands eine Chance – durch Spotify, YouTube und die sozialen Netzwerke habt ihr doch die Chance mit 1-2 Klicks einfach mal in die Songs und Alben reinzuhören… oder lasst euch komplett überraschen. Macht wieder Erfahrungen mit Livemusik, trefft neue Menschen, unterstützt die Szenen vor Ort…
… denn ansonsten wird es wirklich bald wieder still.
Wir bleiben trotz dieser schwieriger Zeit weiterhin positiv und blicken optimistisch in die Zukunft.
Wir glauben an das, was wir tun und versuchen euch und uns durch den Neustart Kultur den Weg zurück zur „Normalität“ zu erleichtern.
Wir sind immer noch dankbar für jedes Konzert, dass wir mit euch durchführen und erleben dürfen und genießen jeden Abend.
Ich hoffe, dass ich euch unsere derzeitige Situation und den Ernst der Lage hier einmal sachlich und emotional schildern konnte und bedanke mich für eure Zeit und Aufmerksamkeit.
Wir sehen uns hoffentlich bald im Zollhaus.
Ich freu mich drauf! Bis dahin, bleibt gesund.
Liebe Grüße
Marco Hanneken
ZOLLHAUSVEREIN e.V.
Bahnhofsring 4
26789 Leer
Tel.: 0491 – 676 49
m.hanneken@zollhaus-leer.com